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Ein Bestandserhalt ist nicht immer erste Wahl

Erneuern oder ersetzen? Um das Netto-Null-Ziel im Gebäudesektor zu erreichen, werden beide Varianten propagiert. Nicht ganz zu Unrecht: Die Unterschiede bei den grauen CO2-Emissionen sind gering, wie neueste Bilanzierungen zeigen.

Der Abriss-Atlas der Schweiz registriert Häuser, die seit vorletztem Jahr vom Abbruch bedroht oder bereits verschwunden sind. Folgt man deren Spuren auf der Inlandkarte, führen sie durch Städte und Agglomerationen mit deutlich erkennbarer Verdichtungsabsicht. Vor allem hier weichen viele alte jeweils einer neuen Immobilie. Kartografiert werden die Abrissobjekte aufgrund eines Aufrufs der Architekturgruppe Countdown 2030. Sie will damit das Bewusstsein in der Fachwelt und der Bevölkerung wecken, dass in jedem Haus wertvolle Substanz steckt und ein Ersatzbauten diese durch weiteren klimaschädlichen Konsum von endlichen Ressourcen verdrängt.

«Aufbruch statt Abbruch» heisst eine ebenso junge Webseite, auf der sich die SIA-Fachgruppe für die Erhaltung von Bauwerken (FEB) für den Bestandserhalt engagiert. Diese Online-Karte dokumentiert seit Herbst 2022 die Verdichtung der Schweiz, allerdings mit anderen Mitteln: Jeder FEB-Eintrag beschreibt ein aktuelles Wohngebäude, das dank Erneuerung, Erweiterung oder Umnutzung vor dem Rückbau gerettet worden ist. Noch immer werde zu schnell und zu viel abgebrochen. Das sei «ökologisch bedenklich», begründet die SIA-Fachgruppe ihre Erhaltungskampagne.

 

Debatte über Betrieb und Erstellung
Die Debatte über das klimafreundliche Bauen wird breit geführt und regt Fachleute ebenso an wie Investoren, Behörden oder die Politik. Ein Konsens scheint sich durchzusetzen: «Theoretisch lässt sich jedes Gebäude CO2-neutral betreiben, wenn es mit erneuerbaren Energien versorgt wird», erklärt stellvertretend Jörg Lamster, Gründer und Partner des Büros Durable Planung und Beratung. Dagegen wird kontrovers beurteilt, ob das Netto-Null-Ziel und die graue Energie zusammenpassen. Erfolgsversprechende Ansätze dazu präsentierte Lamster an der diesjährigen Fachtagung Nachhaltiges Bauen. Die Kreislaufwirtschaft und ein Bestandserhalt seien die Königswege, um indirekte CO2-Emissionen entlang von Baulieferketten zu mindern.

Dem wissenschaftlichen Faktencheck hält diese Hypothese stand: Das zirkuläre Bauen schont endliche Rohstoffe und vermeidet viele indirekte Treibhausgasemissionen. Auf dem ehemaligen Sulzerareal in Winterthur wurde vor drei Jahren ein Werkstattgebäude aufgestockt, fast nur mit Second-Hand-Baumaterial. Die Fassadenverkleidung, das Stahlskelett, Metalltreppen und Fenster wurden an Abbruchobjekten aufgespürt, aufgefrischt und abermals verbaut. Die Schlussbilanz in der CO2-Buchhaltung war fast klimafreundlicher als erhofft: 40 % weniger Treibhausgase verglichen mit einer konventionellen Aufstockung – weil der Winterthurer ReUse-Bau nur zu einem Drittel aus neuem Material besteht. Der Zahlenbeweis stammt aus der Projektbegleitung durch die Architekturabteilung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und die Fachstelle Umweltgerechtes Bauen der Stadt Zürich.

 

Geringe Differenz nach Bilanzierung
Aber könnte die Ökologie nicht noch mehr profitieren, wenn ganze Gebäude anstatt einzelner Bauteile weiterverwendet werden? Hierzu liegt seit Kurzem eine Antwort vor, die auf einer detaillierten Evaluation der Entwicklungsperspektive für eine Gartenstadt in Zürich-Affoltern beruht. Diesmal liefert Durable-Partner Lamster das fundierte Zahlenwerk selbst: Würde man die Siedlung aus den Nachkriegsjahren verdichten und die meisten der 30 Wohnhäuser dazu erneuern und erweitern, wäre das weniger klimaschädlich als ein Komplettersatz mit zeitgemässer Architektur.

Gemäss Lamster ist das Weiterbauen allerdings nur knapp 15 % besser als ein Ersatzneubau. Letzterer erzeuge zudem weniger als 9 kg CO2/m2, was an sich beachtlich wenig sei. Weshalb der Vorsprung nicht grösser ausfällt, erklärt Jörg Lamster mit projektbezogenen Umständen. Zu beachten sei etwa, was der Bestand gemessen an einer zeitgemässen Nutzung zu leisten vermag und in welchem Umfang in die Jahre gekommene Wohnbauten dafür auszubauen sind.

 

Weitere Kriterien für die Abwägung
Der Entscheid über die Zukunft der Zürcher Gartenstadtsiedlung ist bereits gefallen. Die gemeinnützige Bauherrschaft, Habitat 8000, zieht einen Ersatzneubau vor, als Resultat einer umfassenden Abwägung: «Neben den ökologischen Aspekten zogen wir auch soziale und ökonomische Argumente für die Beurteilung bei» bestätigt Philip Blum, Habitat-8000-Geschäftsführer. Aus den sechs eingereichten Architekturvorschlägen kürte man allerdings den Entwurf zum Sieger, der sich am wenigsten schädlich auf das Klima auswirken wird. Unter anderem besteht das ausgewählte Projekt aus viel Holz und steht über einer Tiefgarage, deren Volumen noch redimensioniert werden soll.

Wäre dagegen am Bestand weitergebaut worden, hätte man einige Nachteile mitgenommen. «Der Wohnungsmix war fast nicht veränderbar», sagt Blum. Zudem wäre die Barrierefreiheit eingeschränkt geblieben. Und das Mietniveau hätte für erneuerte Wohnungen nicht viel anders ausgesehen als beim Ersatzneubau. Philip Blum zieht deshalb folgendes Fazit aus dieser Projektevaluation: «Werden ökologische, ökonomische und soziale Kriterien gemeinsam beurteilt, ist die Sanierung nicht immer besser als ein Neubau.»


Zum Thema Bestandserhalt/Kreislaufwirtschaft finden an der Swissbau 2024 folgende Veranstaltungen statt:

Bestanderhalt in der Praxis und im SNBS-Areal
https://www.swissbau.ch/de/e/bestanderhalt-in-der-praxis-und-im-snbs-areal.40265

Welche Architektur braucht es für Netto-Null? - Follow up
https://www.swissbau.ch/de/c/welche-architektur-braucht-es-fuer-netto-null.27684