Nachgefragt Swissbau 2024

Interdisziplinarität als Schlüssel für mehr Baukultur

Was braucht es für eine nachhaltige Gestaltung des Lebensraums und für eine hohe Baukultur? Mit dem kürzlich lancierten Prix SIA ruft der Berufsverband SIA die Fachwelt dazu auf, Projekte zu erarbeiten, die diesen Fragen nachgehen.

Wir sprachen mit Vorstandsmitglied Barbara Wittmer über die neue Auszeichnung und Baukultur im Allgemeinen.

Barbara Wittmer, wie definieren Sie den Begriff «Baukultur» für sich persönlich?
Persönlich finde ich es spannend, dass in der Planungs- und Baubranche viele, unterschiedliche Auffassungen von Baukultur existieren, gleichzeitig aber alle denselben Wunsch nach einer hohen Baukultur hegen. Schade ist, wenn man nur auf einzelne bauliche Aspekte schaut. Die Haltung «gute Baukultur gleich schöne Fassade» greift für mich zu kurz. Vielmehr geht es um die Frage, wie wir unseren Lebensraum gestalten und dabei alle Menschen, das Klima, die Umwelt etc. berücksichtigen.

Was zeichnet Orte aus, die über eine hohe Baukultur verfügen?
Vereinfacht gesagt sind es Orte, an denen sich alle Menschen wohlfühlen und wo Natur und Mobilität Platz haben. Mit dem Davos Qualitätssystem für Baukultur wird ein gemeinsames Verständnis von Baukultur geschaffen. Das von europäischen Fachleuten unter Mitwirkung des SIA entwickelte Qualitätssystem umfasst acht Kriterien, mit denen sich die baukulturelle Qualität von Orten beurteilen lässt: Gouvernanz, Umwelt, Wirtschaft, Genius Loci, Schönheit, Funktionalität, Kontext und Vielfalt. Demnach sollte ein Ort also unter anderem die Umwelt schonen, einen Beitrag zum gesellschaftlichen Austausch leisten und einen wirtschaftlichen Mehrwert bieten, in das jeweilige Umfeld passen sowie einzigartig und inklusiv sein.

Können Sie Beispiele von Orten nennen, die baukulturell besonders überzeugen?
Da kommt mir die Altstadt von Bern in den Sinn, die vor 500 Jahren gebaut wurde und immer noch sehr gut erhalten ist. Aus heutiger Sicht würde man den Ort wohl ganz anders gestalten – in der Altstadt gibt es kaum Bäume und Grünflächen– aber aus baukultureller Sicht ist er ein gelungenes Beispiel. Bei neueren Projekten denke ich an den Liebefeldpark in Köniz oder die Plage des Eaux-Vives in Genf. Beide erfüllen mehrere der acht genannten Kriterien und verfügen demnach über eine hohe Baukultur.

Baukultur ist etwas Dynamisches. Sie wird laufend von uns Menschen geprägt, weil wir den Raum nutzen und gestalten. Was sind Ihrer Meinung nach die aktuell wichtigsten Trends, wenn wir über Baukultur sprechen?
Eindeutig die Veränderung des Klimas und alle damit zusammenhängenden neuen Herausforderungen wie beispielsweise die Frage, wie wir unsere Ortschaften kühlen können. Beim SIA beobachten wir, dass alle Berufsleute ihren Beitrag leisten wollen. Das Bewusstsein für diese Verantwortung auf allen Stufen eines Bauprozesses ist ein erster zentraler Schritt. Nun geht es darum, die unterschiedlichen Kräfte zusammenzubringen mit dem Ziel, die durch die Klimaerwärmung entstehenden veränderten Anforderungen bei Bauprojekten von A bis Z mitzudenken.

Wie hängen Baukultur und Nachhaltigkeit zusammen?
Eine hohe Baukultur ist per se nachhaltig. Das zeigt sich auch daran, dass die drei Pfeiler der Nachhaltigkeit – Ökologie, Ökonomie und Soziales – in den meisten einzelnen Kriterien des Davos Qualitätssystem für Baukultur enthalten sind.

Der SIA zeichnet mit dem Prix SIA im Jahr 2024 erstmals Projekte aus, die eine nachhaltige Gestaltung des Lebensraums anstreben. Was erhofft sich der Berufsverband von der neuen Auszeichnung?
Unser Ziel ist, dass wir Projekte mit unterschiedlichen Ausrichtungen erhalten. Unsere Branchenkolleginnen und -kollegen sollen wissen, dass der Prix SIA ein neues Gefäss ist, um innovative Arbeiten präsentieren zu können. Ausserdem soll unsere Beurteilung von Projekten und die Diskussionen darüber eine Inspiration sein, wie man es auch machen könnte.

Wie meinen Sie das?
Es liegt in der Natur der Sache, dass etwa Architektinnen und Architekten optisch ansprechende Projekte einreichen können, während das für Fachkräfte aus anderen Disziplinen nicht im gleichen Mass möglich ist. Mit dem umfassenden Beurteilungssystem möchten wir dem Entgegenwirken. Zudem wünsche ich mir auch Eingaben, bei denen die Entstehungsprozesse inspirieren, weil versucht wurde mit neuen Arbeitsmodellen, Techniken, oder Instrumenten zu arbeiten.

Sie haben es erwähnt: Beim Prix SIA können von Infrastrukturprojekten über technische Innovationen bis zu architektonischen Werken ganz unterschiedliche Projekte eingereicht werden. Weshalb diese Vielfalt?
Damit wollen wir sehr bewusst die Interdisziplinarität zeigen. Sie ist der Schlüssel für gute Lösungen und damit für mehr Nachhaltigkeit und Baukultur. Wir rechnen damit, dass viele von Teams entwickelte Arbeiten eingehen werden, was die Vielfalt zusätzlich erhöht. Zudem setzen wir auch in der zehnköpfigen Fachjury auf Diversität. Das zeigt sich in den Ausbildungen, Berufen, der Herkunft und Sprache sowie im Alter der einzelnen Jurymitglieder.

Wie müssen Projekte sein, damit sie es auf die Shortlist – eine Auswahl an sechs bis neun Projekten – schaffen?
Das wissen wir auch noch nicht (lacht). Fest steht, dass in punkto Baukultur viel gemacht wurde in den letzten Jahren. Deshalb freuen wir uns auf Eingaben, die begeistern, innovativ sind und andere dazu motivieren, ähnliche Projekte zu wagen. Ebenfalls klar ist, dass nicht zwingend alle acht Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein Projekt auf die Shortlist kommt.

Die Shortlist-Projekte werden an der Swissbau 2024 erstmals auch der Öffentlichkeit präsentiert. Was darf das Messepublikum erwarten?
Es darf sich auf viele tolle Projekte freuen, die zeigen, wie wichtig eine gute und enge Zusammenarbeit innerhalb der Branche ist. Wir vom SIA haben bereits zahlreiche positive Rückmeldungen zur neuen Auszeichnung erhalten. Deshalb sind wir überzeugt, an der Swissbau überraschende und inspirierende Projekte präsentieren zu können.


Barbara Wittmer
Barbara Wittmer ist seit April 2022 Vorstandsmitglied des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA. Sie sitzt im Beirat des neu lancierten Prix SIA. Die studierte Geografin und Raumplanerin ist Partnerin bei plan:team, Büro für Raumentwicklung, Städtebau und Geoinformation mit Standorten in Luzern, Bern und Solothurn.

Prix SIA
Der Prix SIA ist eine Branchenauszeichnung zur Förderung einer nachhaltigen Gestaltung unseres Lebensraums. Noch bis am 31. Oktober 2023 können Berufsleute aus den Bereichen Bau, Technik und Umwelt ihre Projekte eingeben. Eine zehnköpfige Fachjury beurteilt die eingereichten Projekte und wählt sechs bis neun Beiträge auf eine Shortlist. An der Swissbau im Januar 2024 werden diese Projekte erstmals öffentlich vorgestellt und anschliessend in Fach-Talks eingehend diskutiert. Die Auszeichnungsfeier findet am 23. Mai 2024 statt.

Weitere Informationen: www.prixsia.ch