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Der Wiederaufbau der Ukraine wird auch in der Schweiz vorbereitet

Seit mehr als einem Jahr zerstört und beschädigt der Krieg in der Ukraine Gebäude und Infrastrukturen. Wie sie ihr Land nach Kriegsende wiederaufbauen können, lernen geflüchtete Ukrainerinnen in einem CAS an verschiedenen Schweizer Hochschulen.

Weite Gebiete der Ukraine liegen in Trümmern, sind vermint, nicht mehr bewohnbar. Auch wenn ein Ende des Krieges derzeit nicht absehbar ist, laufen bereits Planungen für den Wiederaufbau des Landes. Ein Projekt zur Instandsetzung der zerstörten Infrastruktur hat auch die Berner Fachhochschule (BFH) lanciert: Ende Februar 2023 startete der CAS «Wiederaufbau Ukraine». Er richtet sich speziell an geflüchtete Ukrainerinnen, die Erfahrungen aus dem Bauwesen oder einer ähnlichen Branche mitbringen. Im vier Monate dauernden Kurs lernen sie, wie sie nach dem Krieg den Wiederaufbau ihres Heimatlandes angehen können.

Umfassender Ansatz
Die CAS-Inhalte decken die ganze Breite des Wiederaufbaus ab: technische, ökologische und ökonomische Aspekte, aber auch soziale Themen. Wenn es zum Beispiel darum geht, einen neuen Kindergarten zu konzipieren, beschäftigt man sich klassischerweise mit dem Gebäude und der Infrastruktur. «Ebenso wichtig sind jedoch weitergehende Fragen», erklärt Studiengangleiter Thomas Rohner. «Wie kommen die Kinder zum Kindergarten? Erhalten sie medizinische Versorgung und psychologische Betreuung? Wie lässt sich Korruption im ganzen Projekt vermeiden?»

Viel Wissen vorhanden
Das Know-how zum Thema Wiederaufbau bringen Fachleute von verschiedenen Schweizer Hochschulen (ETH Zürich, FHNW, HSLU, OST, ZHAW) ein, denn die hiesigen Institutionen verfügen über viel Wissen in den Bereichen Siedlungsentwicklung und nachhaltiges Bauen. Zirkuläre Konzepte sind ebenfalls bekannt, etwa wie man aus Trümmern neue Baustoffe herstellen kann. Kompetenzen haben die Hochschulen auch in der Analyse von Bauwerken mittels Vermessung, Scanning, Engineering und Software-Tools. All dieses Wissen wird im CAS «Wiederaufbau Ukraine» zusammengetragen und den Teilnehmenden vermittelt.

Der Mensch im Fokus
Was sind denn die Prioritäten beim Wiederaufbau eines kriegsversehrten Landes? An erster Stelle stehen die Menschen: Sie benötigen Wohnraum, Energie, medizinische Versorgung und Lebensmittel. Der Prozess des Wiederaufbaus entwickelt sich dabei von der schnellen Hilfe zum langfristigen Engagement respektive «vom Provisorischen zum Definitiven», wie es Rohner formuliert. In einer zweiten Phase soll die Wirtschaft wieder ins Laufen kommen, wofür die Produktion von Lebensmitteln elementar ist. Dazu müssen die Felder der als «Kornkammer der Welt» bekannten Ukraine von Minen und Blindgängern gesäubert werden, damit man sie wieder sicher bestellen kann.

Nachhaltigkeitsziele als Orientierung
Wenn Fachleute den Wiederaufbau eines zerstörten Gebäudes oder einer Infrastruktur angehen, analysieren sie zuerst, ob der Bau erhalten werden kann oder ob ein kompletter Rückbau sinnvoller ist. «Im Vordergrund stehen die 17 Nachhaltigkeitsziele (SDGs) der UNO, die den Wiederaufbau nicht als Wiederherstellen von Bestehendem verstehen, sondern etwas viel Besseres kreieren wollen», sagt Rohner. «Es ist zum Beispiel wenig sinnvoll, ineffiziente Plattenbauten aus der Sowjetzeit wiederaufzubauen, wenn man stattdessen ein modernes Gebäude erstellen kann.» So benötigt ein zeitgemässer Bau viel weniger Heizenergie, wodurch auf Gasleitungen verzichtet werden kann oder nur noch kleine zum Kochen benötigt werden. Der Wiederaufbau bietet also durchaus auch Chancen.

Erfolgreiches Debüt
Ende Februar 2023 hat nach monatelanger Vorarbeit die erste Durchführung des CAS begonnen. Am Opening-Event waren 150 Personen anwesend, darunter 30 Pressevertreter aus der Schweiz und der Ukraine. Mit 30 Teilnehmenden ist der Kurs ausgebucht, eine zweite Durchführung ist ab Herbst vorgesehen. Unterstützt wird das Angebot von verschiedenen Unternehmen, Stiftungen, Vereinen und Privatpersonen, welche für die Teilnehmenden im Rahmen einer Patenschaft die Kurskosten übernahmen – ein erfreuliches Zeichen der Solidarität.


«Wir müssen etwas tun»

Thomas Rohner ist Professor für Holzbau und BIM an der Berner Fachhochschule und verantwortet als Studiengangleiter das CAS «Wiederaufbau Ukraine». Im Kurzinterview erklärt er, wie das CAS zustande kam und warum ihm der Kurs so am Herzen liegt.

Das Kernteam der Dozierenden für das CAS «Wiederaufbau Ukraine» (v. l. n. r.): Dr. Mariana Melnykovych, Dr. Olena Tutova, Prof. Thomas Rohner, Dr. Mirjam Sick, Dr. Iryna Chernysh, Dr. Olena Melnyk. (Bild: BFH)

Wie kamen Sie auf die Idee, den CAS aufzugleisen?
Thomas Rohner: Wenige Tage nach Ausbruch des Krieges habe ich zu meiner Frau gesagt: «Wir müssen etwas tun.» Die Ukraine verteidigt schliesslich nicht nur sich selbst, sondern den Frieden und die Demokratie in ganz Europa. Was können wir als Hochschule besser als einen Lehrgang zu entwickeln? Ich wollte als Hilfe zur Selbsthilfe einen Kurs anbieten für Geflüchtete, die ihr Heimatland wieder aufbauen wollen.

Von der ersten Idee zum ausgearbeiteten CAS – wie gingen Sie vor?
Zuerst galt es, einen Curriculums-Entwurf und ein didaktisches Konzept zu entwickeln. Die Leitfrage dazu lautete: «Wie kann ein Wiederaufbau in der ganzen Breite entwickelt werden?». Daraus ergaben sich die vier Säulen des CAS: Gebäude, Infrastruktur, digitale Skills und Querschnittsthemen. Zu letzteren gehören beispielsweise Korruptionsprävention, die 17 SDGs, zirkuläres Bauen oder auch internationale Netzwerke.

Danach haben wir Netzwerke mit allen Hochschulen der Schweiz sowie solchen aus der Ukraine geknüpft. Wir wollten nichts Neues erfinden, sondern bestehende Kompetenzen für die theoretische Ausbildung zusammentragen. Die praktische Ausbildung soll in Schweizer Unternehmungen stattfinden, was ebenfalls zu koordinieren war.

Hilfreich war die Unterstützung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO). Die Verantwortlichen dort haben schnell erkannt, dass die Befähigung von Geflüchteten ein Modell sein könnte, das sich auch auf andere Flüchtlingsgruppen adaptieren lässt.

Inwiefern wurde das Projekt mit Vertretern des ukrainischen Staates koordiniert?
Wir haben uns an der Ukraine Recovery Conference (URV2022) in Lugano mit ukrainischen Organisationen, Universitäten, Ministerien und den Botschaften vernetzt. Mit ihnen diskutierten wir universitäre, wirtschaftliche und politische Themen für den Wiederaufbau.


Fenster für die Ukraine

Nicht nur Schweizer Baufachwissen soll den Wiederaufbau in der Ukraine unterstützen, sondern auch Bauteile. Der Verein «Re-Win» hat dazu das Projekt «Fenster für die Ukraine» ins Leben gerufen, um Überschuss-Fenster in der Schweiz zu sammeln und in die Ukraine zu transportieren. Dort gibt es einen hohen Bedarf, denn Fenster sind diejenigen Bauteile, die am dringendsten für die Instandsetzung von Gebäuden benötigt werden. Gleichzeitig hilft der Re-use der Fenster auch dem Klima, weil die graue Energie in den Fenstern nicht verloren geht. Der gemeinnützige Verein Re-Win bittet um Spenden und freut sich über das Engagement von Freiwilligen.

Mehr über das Projekt erfahren Sie unter www.re-win.ch und im Video:

Video Re-build